LEBENSORT. ZUHAUSE. HEIMAT.
„Wir müssen unser Dorf gemeinsam auf neue Bedarfe und Bedürfnisse ausrichten“
Kinderdorf Niedersachsen in Dissen: Karin Meyer will der nächsten Leitung ein wohl bestelltes Haus übergeben
40 Jahre nach seiner Gründung 1979 ist das Westfälische Kinderdorf „Niedersachsen“ in Dissen ein Leuchtturm im Sozialleben des Südkreises Osnabrück. Die Einrichtung der stationären Jugendhilfe gibt 55 Kindern und Jugendlichen ein Zuhause, bietet ambulante Erziehungshilfen, betreibt einen Jugendtreff sowie einen Hort in Dissen. Jetzt hat es einen Stabwechsel in der Leitung geben: Der langjährige Leiter des Kinderdorfes Helmut Redecker verließ 2018 die Einrichtung; seine Nachfolge trat die studierte Sozialpädagogin, Karin Meyer (63) an.
André Janssen sprach mit ihr über ihre Ziele und ihre Erfahrungen.
Vor sieben Jahren haben Sie als Gruppenleiterin im Kinderdorf Niedersachsen begonnen, waren zuletzt Bereichsleiterin. Jetzt ist Ihnen die Dorfleitung übertragen worden. Wie fühlt sich das an?
Meyer: „Ich nehme diese Herausforderung gerne an, denn sie ist für mich die Krönung eines fast 40-jährigen Berufslebens. Nach meinem Studium habe ich alle fünf Jahre den Arbeitgeber gewechselt, um so viele Konzepte wie möglich kennenzulernen. 2012 habe ich mich bewusst für das Westfälische Kinderdorf als letzte Station entschieden. Jetzt die Leitung der Einrichtung übertragen zu bekommen, das fühlt sich richtig an.“
Ihnen bleiben nur noch wenige Jahre bis zu ihrem Ruhestand, um Pflöcke zu setzen. Was ist ihnen wichtig noch zu tun? Was gehen Sie zuerst an?
Meyer: „Wichtig sind mehrere Projekte parallel, aber beginnen werde ich mit einer Reorganisation. Deren Ziel ist es, in einigen Jahren, meinem Nachfolger oder meiner Nachfolgerin ein wohlbestelltes Haus zu übergeben, in dem alle organisatorischen Prozesse sauber definiert und nachvollziehbar beschrieben sind. Und auch ein Kinderdorf, das auf neue Herausforderungen möglichst optimal vorbereitet ist.“
Reorganisation ist etwas, was viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fürchten. Zurecht?
Meyer: „Nein, mein Ziel ist es, den Mitarbeiterinnen und den Mitarbeitern ein verlässlicher Arbeitgeber zu sein, den man an seinen Zusagen messen kann
Diese Arbeit wird sicher nicht nur den kaufmännischen, sondern auch den pädagogischen Teil der Arbeit umfassen?
Meyer: „Ja, gewiss. Wir müssen als Partner der Jugendämter unsere Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarung regelmäßig prüfen und fortschreiben. Dazu gehört auch, die bestehenden Angebote des Dorfes regelmäßig auf den Prüfstand zu stellen, und im Zweifel auch Neues zu entwickeln.“
Welche Rahmenbedingungen haben sich in der stationären Jugendhilfe stark verändert?
Meyer: „Da gibt es unterschiedliche Trends die uns bewegen. Das Angebot Kinderdorffamilien wird immer häufiger angefragt- vor allem für sehr junge Kinder. Gerade diese Wohnform ist besonders notwendig, weil die Jugendämter immer öfter Kleinkinder aus den Familien herausholen müssen. Für uns wird es auf der anderen Seite aber immer schwerer, Paare oder auch Einzelpersonen zu finden, die die Verantwortung für eine Kinderdorffamilie übernehmen wollen. Den Mitarbeitern ist es wichtig Arbeit und Beruf gut vereinbaren zu können.
Aber das ist sicher noch nicht alles?
Meyer: „Keineswegs, ein weiterer Fakt ist, dass die Problemstellungen bei dem einzelnen Kind immer komplexer werden. So verhandeln wir derzeit mit den Kostenträgern darum, eine Diagnosegruppe aufzubauen in der Neuankömmlinge Platz finden. In mehreren Monaten intensiver Arbeit wollen wir herausfinden, in welcher Wohnform und mit welcher Unterstützung dem einzelnen Kind am besten geholfen werden kann.“
Und was sind weitere Herausforderungen?
Meyer: „Es wird immer schwieriger, junge Erwachsene zu verselbstständigen, hinaus ins Leben zu schicken. Das hat vor allem etwas damit zu tun, das es einfach nicht mehr genügend preiswerte Wohnungen gibt. Wir denken über neue Wohnformen nach, die nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Sinn bieten.“
Was meinen Sie damit?
Meyer: „Wir würden gern einen Bauernhof finden, den wir für unsere Bedürfnisse herrichten können. Wir denken dabei an Appartements für die Großen, an ein paar Tiere, an gemeinsame Aufgaben. Aber auch an eine Spielscheune, in der sich bei schlechtem Wetter alle Altersgruppen austoben können. Das ist ein Riesenprojekt, für das wir noch ganz viele Unterstützer, nicht nur hier in Dissen, gewinnen müssen.“
In der Verantwortung als Jugenddorfleiterin sind Sie allein, sprechen am meistens von „wir“, oder?
Meyer: „Ein Kind braucht ein Dorf und wir sind das Dorf. Wir müssen gemeinsam Konzepte prüfen, überarbeiten, an neue Herausforderungen anpassen. Nur wir gemeinsam können etwas bewegen. Ich habe so engagierte, motivierte und fachlich qualifizierte Mitarbeiter, dass ich mir sicher bin, dass uns dies gelingen kann. Ich wünsche mir, dass alle mit anpacken. Denn es geht auch um eine nachhaltige Veränderung unserer ebenso anstrengenden wie wichtigen Arbeit in der Zukunft. Und um ein Wir-Gefühl, das zu stark gar nicht sein kann.“